Für Kleinkaliber (Freundinnen von Marie) | (Förderpreis)
Das Stück
Marie kümmert sich um ihren Großvater; der ist dement und kackt in die Hosen. Ihre Freundinnen kommen zu Besuch. Die sind vor allem mit ihren Smartphones, mit Filmen, Posten und Liken beschäftigt. Es kommt zu einer temporeichen Begegnung zwischen der sprunghaften Sturheit des dementen Alten und der digitalen Besessenheit der Mädchen. Das Aufeinandertreffen der beiden Generationen zeigt das Aufbrechen von Gewalt in Strukturen, in denen der Zwang zur Selbstdarstellung Respekt nachrangig werden lässt. Sprachlich hervorragend gearbeitet, ein rhythmisch rasant komponierter grausamer Text.
Die Laudatio von David Lindemann im Wortlaut:
Kleinkaliber ist ein verblüffendes Stück. Es ist verblüffend lang, und es ist verblüffend schwer zu verstehen. Es ist vor allem verblüffend schwer zu verstehen, wie man das überhaupt lesen soll. Trotzdem habe ich das Stück zu Ende gelesen (nicht nur einmal) und ich freue mich ganz besonders, dass Charlotte Luise Fechner heute den Förderpreis bekommt.
Es geht um vier Mädchen um die vierzehn, um ihre Smartphones, den glotzenden und grabschenden Opa Walther, um Eltern, die nicht zu Hause sind, Freunde, die man nicht treffen darf, Alkohol, den man nicht trinken darf, Ferien, die man feiern will, eine Handfeuerwaffe namens Mauserlein, um Verantwortung, Vertrauen, Identität, es geht um Social Media, einen gemeinsamen Abend, um Freiheit, und am Ende fällt ein Schuss.
Man muss beim Lesen sofort an den Film The Bling Ring von Sophia Coppola denken oder an Spring Breakers von Harmony Korine, an schöne Filme über junge Mädchen, deren Sozialverhalten wir, gemessen an traditionellen Standards, als dysfunktional bezeichnen würden. Man möchte auch das Sozialverhalten der vier Mädchen in diesem Stück, ihre Unfähigkeit, den unmittelbaren Moment von seiner virtuellen Reproduzierbarkeit zu unterscheiden, als dysfunktional bezeichnen. Da kommt jemand im realen Leben nicht mehr zurecht, weil er sich von der Parallelwelt der sozialen Medien gefangen nehmen lässt. So heißt es auch im neuen Buch der Medienjournalistin Nancy Jo Sales: Social Media zerstört Leben, aber wenn die Menschen damit aufhören, haben sie kein Leben mehr.
Aber das Sozialverhalten der Figuren in Kleinkaliber als dysfunktional zu bezeichnen, führt auf die falsche Fährte. Es ist beunruhigend effizient. Hier wird immer auf mindestens zwei Ebenen gleichzeitig kommuniziert, und das fühlt sich zuerst so an, als würde man einen der oben genannten Filme in einer Sprache sehen, die man wenig beherrscht, ohne Untertitel, oder schlimmer, mit Untertiteln in einer völlig fremden Sprache. Von der Kunstsprache der Vierzehnjährigen trennen mich 25 Jahre, und den Geheimcode der Social Media-Kommunikation verstehe ich überhaupt nicht. Mit diesen beiden Sprachebenen spielt aber das Stück, und es spielt übrigens sehr schön und gelungen damit, das muss ich gleich dazu sagen. Als ich anfing zu lesen, habe ich zuerst gar nichts verstanden. Beim zweiten Versuch habe ich mich darauf konzentriert, wer wann was genau sagt. Vergebens. Ich habe ein drittes Mal von vorne angefangen, diesmal egal, Augen zu und durch, ohne Rücksicht auf Verluste, wie Opa Walther sagen würde. Und wenn man dem Stück sozusagen beiwohnt, während es an einem vorbeirauscht, und man also mitrauscht mit diesem Stück (das wünsche ich übrigens seiner Umsetzung auf der Bühne), dann passiert das eigentlich Verblüffende: Man versteht plötzlich sehr viel. Man bekommt eine Eindruck von einer Medienkultur, in der nach Regeln gespielt wird, die immer weniger mit Spaß zu tun haben, weil uns langsam aufgeht, das virtuell nicht das Gegenteil von real ist. Virtus im Lateinischen bedeutet Kraft und Tugend. Virtualität ist etwas, das physisch zwar nicht vorhanden ist, aber trotzdem Wirkung entfaltet. Kleinkaliber ist trotzdem überhaupt kein Stück über Social Media. Die Autorin webt die Kraft der virtuellen Kommunikation so selbstverständlich in den Text hinein, dass wir überhaupt nur noch etwas verstehen, wenn wir Social Media immer mit-verstehen. Wenn man in Theaterstücken nach einer Aussage sucht, dann ist das vielleicht eine Aussage. Vielleicht ist es eher eine Aufgabe, die das Stück aufgibt.
Es ist experimentierfreudig und kunstfertig, wie Charlotte Luise Fechner macht hat. Wie sie die Ebenen auseinanderhält und gleichzeitig vermischt, wie sie dem sexualisierten Kunstsprech der Mädchen die sexistischen Sprichwort- und Volksliedchiffren des alten Walther gegenüberstellt. Wie sie verdichtet, kalauert, rhythmisiert und dadurch Distanz hält, wie sie diese Sprache beherrscht, ohne sich selbst den eigenen Figuren anzubiedern. Sie guckt auch nicht von oben auf ein paar schön ausgearbeitete Charaktere herab. Sie schickt diese merkwürdigen, minderjährigen Zwitterwesen, die große Teile ihrer Identität in eine Welt auslagern, zu der Erwachsene keinen Zutritt haben, in eine Endlosschleife, in der sogar der Tod kein Ende mehr ist, solange man fortwährend den eigenen Status kommentiert.
Vielleicht ist Kleinkaliber ja kein Stück über Social Media, dafür aber ein Stück über Virtualität im Sinne von Kraft und Tugend. Man muss das jedenfalls ernst nehmen und nicht als Parodie, auch wenn ich mir den Spaß vorstellen kann, dieses Stück auf die Bühne zu bringen.