Für Schneeschuhhasen im Glas
(3. Preis)
Das Stück
Sie, die
gemacht worden
ist, unternimmt einen gewagten Versuch: Weil ihr bester Freund Alex ihr kein Sperma abgeben und ihre Gynäkologin ihr weder Eier entnehmen noch isolieren wollte, hat sie erst Papas Kreditkarte geklaut und sich dann ihre ‚Zutaten’ im Internet bestellt, um herauszufinden,
wie das so geht
wo man herkommt
wie sich das so anfühlt und das so aussieht im Glas und bei der Teilung
und wenn dann Meiose stattfindet
Die Begründung der Jury (Silvia Andringa, Ralph Förg, Renate Frisch, Rob Vriens) im Wortlaut:
„Dass man in der Schule auch nie was lernt, was wirklich wichtig ist! Ich meine, wen interessieren schon Schneeschuhhasen? Die gibt’s in Deutschland nicht mal…“ raisonniert sie über die Inhalte des Biologieunterrichts und macht sich , ihren Versuchsaufbau vorzubereiten.
Das junge Mädchen – vermutlich Schülerin eines 11. Jahrgangs teilt uns dabei folgendes mit: Sie hat ihrem Vater die Kreditkarte geklaut, hat sich im Internet alle Zutaten für eine künstliche Befruchtung in vitro bestellt, hat sich sich dann „aus dem Genpool die geilste Kombi zusammengemorpht“ – Haut- und Haarfarbe, Nichtraucher, samt Lebensmotto und Glaube der Spender und Spenderinnen, und schickt sich nun an, ein Kind herzustellen. Denn: „…Sex – also so toll jetzt echt nicht – der ganze Aufstand…“ Sie hat’s schließlich mit Ritchie auf einer Party ausprobiert. Also, wenn man aus irgendeinem Grund kein Kind auf natürliche Weise zeugen möchte, dann muss doch wissen, wie’s anders geht.
Während dieses „reproduktionsmedizinischen Bühnenversuchs“ erfahren wir, dass die Erzählerin selbst einen solchen Ursprung hat, und so erscheint es folgerichtig, dass sie versucht ihre eigene Existenz auf demselben Weg zu rekonstruieren.
Inhaltlich gelingt es der Autorin Charlotte Luise Fechner, vor dem Hintergrund der aberwitzigen Ausgangssituation ein quasi philosophiches Essay über Leben und Herrschaft, Schöpfung und Demut zu entwickeln, aber auch über Bildungsinhalte und Funktion von Schule. Durch das Einstreuen von alltäglichen Teenagererfahrungen bleibt sie jedoch immer auf Augenhöhe des jugendlichen Publikums, welches sie ernstnimmt und dessen praktische Lebenstüchtigkeit sie offenbar hoch einschätzt.
Die Sprache ist kunstvoll gesetzt und unterstreicht fortwährend die hintersinnige Bedeutung der scheinbar leicht dahergeplapperten Worte durch Auslassungen. Dadurch entsteht ein monologischer Meta-Satz über die großen Fragen der Zeit, der sich auch vor ratlosen Pausen über die Länge von bis zu einer halben Seite nicht scheut, eine Ratlosigkeit, die sich übertragen und fruchtbare Diskussionen im Publikum anregen kann.
Ein im besten Sinne überraschendes Stück modernes Theater, welches sich auch für das Klassenzimmer eignet – sinnvollerweise im Chemiesaal!